Flexibler denn je?!

29. Oktober 2020,      

In den vergangenen Monaten haben wir alle es erfahren, jeder war davon betroffen: wir mussten uns umstellen, auf Neues und Ungewohntes einstellen, wir mussten uns anpassen, einschränken, wir mussten verzichten - kurz: wir mussten unsere Gewohnheiten ändern. Dies fällt manchen von uns leichter als anderen. Einige Menschen arrangieren sich leichter mit Veränderungen und die damit einhergehenden Herausforderungen, andere orientieren sich eher am Gewohnten, brauchen Struktur und stabile Rahmenbedingungen. Überlegen Sie einmal, in welchen Bereichen ist Ihnen eine Änderung in der vergangenen Zeit der Corona-Krise eher leicht gefallen? Was haben Sie geschafft, worauf können Sie stolz sein? Fragen Sie sich aber auch: in welchen Bereichen fanden Sie eine Veränderung besonders schwer? Welche Rituale oder Gewohnheiten haben Ihnen während dieser Ausnahmezeit geholfen?

 

Einerseits ist der Mensch ein Gewohnheitstier und schätzt Regelmäßigkeiten, auf die er sich einstellen kann. Andererseits mussten wir uns im Laufe der Menschheitsgeschichte immer wieder anpassen, umdenken, den Kurs ändern und uns neu orientieren. Es sind also beide Tendenzen wichtig und richtig. Innerhalb unserer aktuellen Wissensgesellschaft (d.h. Wissen zu haben, es sich anzueignen und zu "pflegen", es aktuell zu halten) steht jedoch nicht das Anwenden von Tradiertem im Vordergrund, sondern das Lernen und Vorantreiben von Neuem. Dies widerspricht dem Weiterleben von Gewohntem und fordert vermehrt die Fähigkeit der Anpassung an neue Situationen und Gegebenheiten - und das auch noch möglichst rasch. Und noch ein Aspekt kommt hinzu: während in der industriellen Fertigung weniger der einzelne arbeitende Mensch und seine_ihre Persönlichkeit und Emotionen in das Produkt einfließen, ist im Dienstleistungsbereich genau das gefordert, ja der_die Dienstleister_in verkauft mitunter sogar die eigene Persönlichkeit als "Produkt". Wissen und die eigene Persönlichkeit sind dynamisch und erfordern sogenanntes lebenslanges Lernen. Um dies zu ermöglichen, ist die Investition in Schlüsselqualifikationen nötig, die beständig trainiert werden müssen: Methodenkompetenz, Sozialkompetenz und Selbstkompetenz des_der Mitarbeiters_in. Gemeinsam mit Ausdauer, Zuverlässigkeit und anderen Qualifikationen fällt Flexibilität in letzteren Bereich. Die geistige Flexibilität gehört zu den sogenannten exekutiven Funktionen, die es uns ermöglichen, einen Plan zu erstellen, diesen auszuführen, die Richtung zu korrigieren sollte dies nötig sein, zu reflektieren, Unwichtiges auszublenden und uns auf Wichtiges zu konzentrieren. Auch die Steuerung des Sozialverhaltens und der eigenen "Gefühlskompetenz" hängt eng mit den exekutiven Funktionen zusammen (z.B. das Zeigen von Mitgefühl und Selbstbeherrschung). Eine gut ausgeprägte geistige Flexibilität wir als Fähigkeit zur raschen Einstellung auf neue Anforderungen verstanden. So wie die restlichen exekutiven Funktionen kann auch die geistige Flexibilität trainiert bzw. unterstützt werden: durch ausreichend Schlaf und Bewegung (vor allem Wettkampfsport), gesunde Ernährung, durch das Ausprobieren von etwas vollkommen Neuem, durch Brett- und Gesellschaftsspiele mit anderen, dem Erlernen von bewusster Entspannung, ein aktives Sozialleben (Kennenlernen möglichst unterschiedlicher Perspektiven) aber auch durch innere Selbstgespräche während derer man sich selbst innerlich immer wieder zu den gerade wichtigen Tätigkeiten anhält, sich selbst ermuntert und reflektiert. 

 

Zu Bedenken gilt außerdem, dass Flexibilität nicht etwas ist das man einfach "besitzt" oder eben nicht. Es braucht auch reale Umgebungen und die Möglichkeiten, Flexibilität "leben" zu können. Bezogen auf die Arbeitswelt kann dies bedeuten, dass es zu allererst einmal wichtig ist, ob das Unternehmen selbst Flexibilität "vorlebt" und für sich als Einheit als wichtig erachtet. Dies kann z.B. durch äußere Rahmenbedingungen wie die Möglichkeit zu Home Office oder eine abwechslungsreiche und kommunikationsfördernde Innenausstattung (Rückzugsorte sowie gemeinschaftsfördernde Orte) des Betriebs passieren. Außerdem erfordert ein flexibles Unternehmen ein radikales Umdenken bezüglich seiner Kommunikations- und Fehlerkultur: stärken Sie als Führungskräfte den Zusammenhalt und Austausch innerhalb der Teams, zeigen Sie Dankbarkeit, initiieren Sie die breite Streuung von Wissen, informieren Sie Ihre Mitarbeiter_innen regelmäßig über Neues und die Hintergründe dafür, implementieren Sie Feedbackschleifen und anstatt Fehler oder "Sackgassen" als negative Beispiele anzusehen für die man sich schämt und lieber schweigt, zahlt es sich aus, Fehler als solche zu erkennen, zu benennen und darüber gemeinsam zu reflektieren. Diese Maßnahmen fördern überdies das Vertrauen in Sie und untereinander und können die Arbeitszufriedenheit erhöhen. Darüber hinaus sollten die Aufgaben der Mitarbeiter_innen so gestaltet sein, dass sie anstrengend aber gleichzeitig auch "lustvoll" sind und Freude bereiten. Durch diese Kombination werden geistige Fähigkeiten trainiert und erhalten, was angesichts des stetig steigenden Altersdurchschnitts von Arbeitenden zusätzlich von Bedeutung ist.

 

Trotz der Wichtigkeit von Flexibilität ist auch das Ausleben von festen Gewohnheiten vonnöten. Sie geben uns Halt und machen unser Leben einfacher, da wir nicht ständig über unsere Handlungen nachdenken müssen. Schlussendlich sind beide Komponenten, Flexibilität und Rituale/Gewohnheiten, wichtige Pfeiler für gelingende Arbeit. Flexible Unternehmen wissen um die positive Bedeutung der Diversität ihrer Mitarbeiter_innen (z.B. Präferenzen des Arbeitsstils) und fördern diese aktiv.

MMag. Lisa Birkner

Klinische Psychologin / Arbeitsspsychologin i. A.